Ein Hauch von Lebensodem durchweht die Nacht,
ein erster Ton erwacht.
In der Stille des Seelengrundes gebiert sich ein Klang,
wie eines Vogels Gesang.
Ein Weiten, ein Lichten, ein Flügelschlag ...
Die Essenz des Sternenweges (Jakobusweg) wurde seit jeher durch Metaphern zum Ausdruck gebracht. Die Nachtigall ist in vielen spirituellen Traditionen ein metaphorisches Symbol.
In der islamischen Mystik und der mystischen persischen Literatur ist die Nachtigall das Symbol der liebenden Seele und das Symbol für die Selbst- und Gottessuche; die Nachtigall als der Seelenvogel, der inmitten der Stille der Nacht einen innbrünstigen Gesang anstimmt, das Lied der Seele, erfüllt von der Sehnsucht nach Gott.
Der Gesang der Nachtigall trägt den Suchenden zuweilen hinaus über Zeit und Raum in eine Sphäre des mystischen Entrücktseins. Auf dem Jakobusweg ist die Legende vom Mönch und der Nachtigall seit langem präsent, wie in der Legende von Abt Virila:
Es begab sich zu der Zeit, als Abt Virila einer Klostergemeinschaft in Navarra vorstand. Eines Nachts wandelte Virila barfüßig in einem Wald in der Nähe seines Klosters und sann an einer Quelle über die Ewigkeit des Himmelreichs nach.
Selbstvergessen gab er sich in der Stille der Nacht dem Gebet und der Kontemplation vollkommen hin. Da erklang plötzlich ein wundersamer Gesang in seiner Seele und zugleich sah er einen kleinen unscheinbaren Vogel, der auf einem Ast einer alten Eibe saß, ganz nah bei Virila.
Es war eine Nachtigall, die inmitten der dunklen Nacht einen alles durchdringenden himmlischen Gesang anstimmte. Die Nachtigall sang ihr Lied und sang es immerfort. Noch beim ersten Morgenleuchten erklang ihr Lied und als die ersten Sonnenstrahlen durch den Morgennebel drangen, da war Virila bereits fortgetragen, jenseits von Raum und Zeit.
Als er erwachte und zum Kloster zurückging, da kam ihm die Welt verwandelt vor. Den Bruder an der Pforte kannte er nicht und ein anderer Mönch saß auf seinem Platze. Virila nannte seinen Namen
und die Verwunderung war groß, als ein Mönch des Klosters einen Eintrag in alten Chroniken fand, darin der Name des Abtes aufgezeichnet war:
„Virila, im Walde verschollen.“ 300 Jahre waren vergangen.
Zutiefst erstaunt und ratlos waren die Mönche, bis eine Stimme zu Virila sprach: „Du wähntest meinem
Gesang nur eine Weile zu lauschen, doch 300 Jahre sind vergangen. Wenn schon dieser winzige Augenblick des Ewigen Dir eine solche Verzückung schenken kann, was wird die immerwährende Freude des
göttlichen Lichts Dir wohl sein?“
Dann flog eine Nachtigall geradewegs auf die Hand von Virila. Sie hatte den Ring des Abtes in ihrem Schnabel und setzte ihn auf seinen Finger. Fortan bis zu seinem Tode nahm Virila seinen Dienst als Abt des Klosters wieder auf.
Hier eine weitere Version der Legende von Abt Virila und der Nachtigall, in spanischer Sprache, mit Impressionen aus dem “Monasterio de Leyre“ und der Umgebung des Klosters:
Die Legende wird einer historischen Person zugeschrieben: Virila von Leyre (870-950) war Abt des Klosters “Monasterio de Leyre“ am Jakobusweg in Navarra. Seine Reisen führten ihn auch nach Galicien. Dort wurde die Legende dem Abt Ero zugeschrieben, der um die Mitte des 12. Jahrhunderts das Kloster “Santa María de Armenteira“ gegründet hat. Im Jahre 1162 schloss sich dieses Kloster dem Zisterzienserorden an.
In Hispanien wurde die Legende vom Mönch und dem Vöglein im 13. Jahrhundert populär. Damals fand sie Eingang in eine weithin bekannte Sammlung von Liedern des Mittelalters: Las Cantigas de Santa María (Cantiga 103: "Quena Virgen ben servirá a Parayso irá.").
Die Liedtexte der Sammlung wurden in galicisch-portugiesischer Sprache im Auftrag von König Alfons X. (1221–1284) zusammengestellt. Sie sind mit kunstvoll gestalteten Miniaturen verziert, in denen auch das Vöglein im Baume abgebildet ist:
Ein Kapitell des Kreuzgangs der Kathedrale im nordspanischen León zeigt die Legende vom Mönch und dem Vöglein mit kunstvollen Elementen. Der Mönch bildet eine Einheit mit einem Baum. Knieend blickt er zum Vogel auf. Entstanden ist diese Szene gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Ornamente, die Bäume, Blätter und Pflanzen zeigen, waren damals an Kirchen und Kapellen weit verbreitet. Am Eingangsportal der Kathedrale in León ist der Hombre Verde in vier aufeinander folgenden Weisen zu sehen, bei denen der Kopf, aus dem Blätter quillen, immer deutlicher als Menschenkopf in Erscheinung tritt.
Frühe Aufzeichnungen der Legende vom Mönch und dem Vöglein finden sich in den Predigten des Bischofs Maurice de Sully aus Paris, der bis zum Jahre 1196 lebte. Die Legende verbreitete sich in den Klöstern entlang des Jakobusweges.
Die frühen schriftlich erhaltenen Versionen der Legende gründen auf einer noch älteren Version. Darauf wies bereits Fritz Müller hin, der in seiner Dissertation „Die Legende vom verzückten Mönch, den ein Vöglein in das Paradies leitet“ (1912) eine chronologische und inhaltlich aufeinander bezogene Folge vieler der Legendenversionen vorgeschlagen hat.
In einer Version von Maurice de Sully und einem kunstvoll bebilderten mittelhochdeutschen Gedicht, das im Jahre 1276 niedergeschrieben wurde, ist als Quelle der Legende vom Mönch und dem
Vöglein das Werk Vitae Patrum angegeben: „In vitas patrum ich ez las. Ein mvnich in eime clostere was der eines nachtes zv
mettene vf stvnt …“
(Vgl.: Carl von Hardenberg: Geistliches Gedicht des XIII. Jahrhunderts. Germania 25, 1880, Seite 339–344, Zeile 79-81 und Nicole Eichenberger: Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen
Kleinepik des Mittelalters, Reihe: Hermaea. Neue Folge 136, Berlin, Boston: De Gruyter, 2015, Kapitel VII 2.2)
Es muss eine frühe Version der Vitae Patrum gewesen sein, die heute nicht mehr bekannt ist. Die Vitae Patrum wurde während ihrer Verbreitung verändert. Es ist ein bedeutendes Werk der hagiographischen Literatur und enthält Lebensbeschreibungen und Lehrgespräche christlicher Eremiten und Mönche ab dem 4. Jahrhundert. Der Ursprung der Legende vom Mönch und dem Vöglein kann demnach für diese Zeit vermutet werden.
Bereits in vorchristlichen Traditionen auf dem Sternenweg im Nordwesten der Iberischen Halbinsel waren spirituell gedeutete Vogelstimmen bedeutsam. Noch im 6. Jahrhundert berichtete Martin von Braga von der Bedeutung des Vogelgesangs als Brücke zu einer jenseitigen Welt. Er verurteilte die Deutung des Vogelgesangs und die heidnischen Rituale an Quellen und in Wäldern.
Die Entrückung eines Mönchs, der an einer Quelle im Walde dem Gesang eines Vogels lauscht, weist deutliche Parallelen zu heidnischen Traditionen und priscillianischen Praktiken auf, die im 4.-6. Jh. im Nordwesten der Iberischen Halbinsel weit verbreitet waren. Spätere Versionen der Legende vom Mönch und dem Vöglein wurden dann den jeweiligen Glaubensvorstellungen und den lokalen Bedingungen angepasst.
Einer der bedeutendsten Kirchenlehrer des 4. Jahrhunderts war Basilius von Caesarea (†379). Er warnte vor dem Abstumpfen gegenüber der „Erkenntnis des wahren Lichtes“ und empfahl:
„Lern' in allem die Weisheit Gottes kennen, und hör' nie auf, sie zu bewundern und den Schöpfer in jeglicher Kreatur zu verherrlichen!“ Beim Wachen während der Nacht sollten die Vögel der Nacht
geschaut werden: „Kannst du also einmal nicht zeitig einschlafen, so darfst du nur bei diesen verweilen und ihre Eigentümlichkeiten betrachten, und du hast Grund genug zum Lobpreis auf Gott: Erwäg
wie die Nachtigall nicht schläft … und die ganze Nacht hindurch ihr Singen nicht einstellt…“
(Vgl.: Des heiligen Kirchenlehrers Basilius des Grossen ausgewählte Schriften; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 47, Kempten und München, 1925)
Zur Zeit des Bischofs Priscillian (†385) und seinen Nachfolgern in Hispanien ab dem 4. Jahrhundert waren Erfahrungen in der Natur Teil eines mystischen Einweihungsweges. Barfüßiges Gehen und
kontemplatives Wachen im Walde gehörten dazu. Naturmystische Erfahrungen galten als Mittel auf dem Weg zum Erwachen und Verwandeln im Gewahren des Ewigen. Diese Praktiken gehörten dann auch zu den
Gründen für die Verfolgung der Priscillianer. Nach der Hinrichtung Priscillians wurde der Nordwesten der Iberischen Halbinsel (Gallaecia) zu einer Hochburg des Priscillianismus. Um die Mitte des 5.
Jahrhunderts gab es in ganz Gallaecia kaum einen christlichen Kleriker, der nicht den priscillianischen Glaubensvorstellungen anhing.
Wenn man der Spur der Legende vom Mönch und dem Vöglein ins hispanische Gallaecia des 4./5. Jahrhunderts folgt und dann die erhaltene Legendenversion Cantiga 103 betrachtet, gelangt man zu folgender
Überlegung: An der in Hispanien ab dem 13. Jahrhundert weit verbreiteten Version der Legende (Cantiga 103) lässt sich deutlich erkennen, dass zentrale Elemente der als häretisch angesehenen
priscillianischen Praktiken durch Glaubensvorstellungen ersetzt wurden, die im 13. Jahrhundert als akzeptabel galten. Aus dem dunklen Walde bei Nacht wurde ein klosternaher Garten zur Tageszeit. Die
besondere Bedeutung des Klosters und der Jungfrau Maria wurden eingefügt. Ein Mönch wird belehrt, dass durch frommen Dienst das nachtodliche Paradies erwartet werden könne. Die
naturmystische Erfahrung auf dem priscillianischen Einweihungsweg führt hingegen zur "Auferstehung" mitten im Leben, eine geistige Wiedergeburt, in der Ewiges und Zeitliches im Gegenwärtigen
zusammenfallen.
Zur Zeit der Rheinromantik erlebten Versionen der Legende vom Mönch und dem Vogelgesang eine Wiederbelebung. Im Siebengebirge wurde sie dem Mönch von Heisterbach zugeschrieben.
Nahe dem Siebengebirge soll es Abt Erpho zu Siegburg gewesen sein, der am 3. Juni des Jahres 1067 verschwunden sein soll und 300 Jahre später an die Pforte seines Klosters klopfte. Die Erpho-Legende weist auffallende Affinität zur Ero-Legende aus Galicien auf. Auch dort soll Abt Ero im Jahre 1367 in sein Kloster “Santa María de Armenteira“ in Galicien zurückgekehrt sein.
Die Legende vom Mönch und dem Gesang der Nachtigall galt in einigen der Klöster entlang des Jakobusweges als eine wichtige Lehrerzählung. Der Gesang der Nachtigall kann die Seele des Suchenden berühren und sie zur Selbst- und Gotteserkenntnis geleiten. Wenn der Suchende jedoch unvorbereitet mit der Kraft des himmlischen Liedes in Berührung kommt, dann kann der Gesang der Nachtigall ihn betören und ablenken von den essentiellen Fragen. Gerade dann, wenn der Suchende meint, der Erkenntnis nahe zu sein, kann die Verzückung zum Selbstzweck werden. Das transzendierende Loslassen des ichbezogenen Selbst ist dann unmöglich geworden.
Eine solche Selbstbezogenheit mag auch Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153) vorgefunden haben, als er einst das Kloster in Himmerod in der Eifel aufsuchte. Er vertrieb einer Legende nach
kurzerhand alle Nachtigallen aus dem Walde bei Himmerod. In diesem ersten Zisterzienserkloster, das im Gebiet des heutigen Deutschland entstand und von Bernhard von Clairvaux gegründet wurde, war die
Legende vom Gesang der Nachtigall sicherlich gut bekannt. Hinzu kommt die Legende vom Nachtigallenwäldchen, in dem sich die Nachtigallen nach der Vertreibung niederließen.
(Vgl. Ralf Pochadt: Das Nachtigallenwäldchen in Honnef. In: Kurt Roessler (Hrsg.): Unendlichkeit, Ewigkeit & Der Mönch von Heisterbach, Bornheim 2018, Seite 199-202 i.V.m. Seite 121-125)
„Die Ewigkeit berühren oder von ihr berührt werden.“ Das ist die Bedeutung der indoeuropäischen Namenswurzeln der verschiedenen Eibennamen.
(Vgl. Fred Hageneder: Die Eibe in neuem Licht, Saarbrücken, 2007, Seite 138ff)
Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich in der obigen Version von Abt Virila die Nachtigall auf einer alten Eibe niederlässt und dort ihr himmlisches Lied erklingen lässt. Alte Eiben und Eibenhaine wurden als irdische Orte der Verbindung zum Ewigen angesehen, gerade im nordspanischen „Eibenland Asturien“ und den dortigen Urwäldern.
Das liegt einerseits an der Regenerationsfähigkeit der Eibe. Andererseits berichten einige Eibenwaldbesuchende von einem Gefühl, die Zeit zu vergessen, wenn sie in Ruhe und Achtsamkeit bei einer alten Eibe verweilen oder behutsam durch den Wald schreiten. Vielleicht tragen die Ausdünstungen der Eibe dazu bei, einen veränderten Bewusstseinszustand herbeizuführen oder die Millionen Sporen, die im Frühling wie ein goldenes Vlies seicht zu Boden sinken.
Jede einzelne alte Eibe ist ein Wunder des Lebens, das wir in uns spüren können, wenn wir unser Herz dafür öffnen. Dann mag es zuweilen geschehen, dass unsere Seele ein Lied anstimmt, das uns hinüberträgt zum Erahnen des zeitlos Ewigen in allem. Wie in der Metapher von Mönch und Nachtigall umhüllt uns dann ein Hauch von Ewigem.
Der himmlische Gesang der Nachtigall im Geäst der Eibe geleitet den Suchenden hinaus über Raum und Zeit, ins All über uns, in uns und als uns. Die Melodie des Alls singt in jedem Augenblick das Weltenlied, in allem. Alles ist Klang, alle Schöpfung stimmt mit ein und die Töne erklingen in einer wundersam harmonischen Melodie, die alles verbindet. Alles ist EINS.
Einer der großen Poeten auf dem Sternenweg in Asturien ist Aurelio González Ovies. In seinen Werken kommt die Liebe zu seiner Heimat und die Inspiration des Ewigen poetisch zum Ausdruck.
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